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Ihre erste Begegnung mit Deutschland
war eine blonde Puppe. Die brachte
Gülistan Yüksels Vater ihr mit, als er
auf Heimaturlaub in die Türkei kam.
Damals lebte sie mit ihrer Mutter und
ihren Geschwistern in der Türkei, und
ihr Vater arbeitete in Deutschland.
„So sehen wohl deutsche Kinder aus“,
dachte sie und malte sich ein Bild
Deutschlands. Wie es in Deutschland
war, stellte sie fest, als sie mit acht
Jahren selbst nach Deutschland kam.
In Rheydt-Mülfort, wo sie fortan mit ihren
Geschwistern und den Eltern lebte,
„BERLIN IST SCHÖN,
ABER GLADBACH IST
MEIN ZUHAUSE“
Gülistan Yüksel
machte sie Bekanntschaft mit den drei
Mädels von der Tankstelle. Die Töchter
des Aral-Tankstellenbesitzers wurden
schnell Yüksels engste Bezugspersonen.
Mit ihnen verbrachte sie viel Zeit,
von ihnen lernte sie Deutsch, und mit
ihnen baute sie ihren ersten Schneemann.
„Der erste Schnee war ein unvergessliches
Erlebnis für mich“, sagt
sie heute. Denn Schnee kannte sie aus
ihrer Herkunftsstadt Adana, einer Stadt
am südlichen Mittelmeer, bis dahin
nicht.
Plötzlich ohne Vater
Aus der kleinen Tochter des Gastarbeiters
ist eine gestandene Politikerin geworden,
ein Mitglied des Deutschen
Bundestages. Trotz allen Erfolgs vergisst
Yüksel nie, wo sie herkommt und
was sie geprägt hat. „Als ich 18 war,
verstarb mein Vater ganz plötzlich bei
einem Verkehrsunfall“, erzählt sie. Von
da an war Yüksel, als Älteste der acht
Kinder, dafür zuständig, die Familie
zusammenzuhalten und über die Runden
zu bringen. Dabei stieß sie immer
wieder auf Ungleichbehandlung, Ungerechtigkeiten
und Unverständnis
gegenüber Menschen, die es ohnehin
schon schwer hatten. „Diese Erlebnisse
haben bei mir dazu geführt, dass
ich mich selbst engagieren wollte. Ich
wollte eine Brückenfunktion übernehmen“,
sagt die 56-Jährige rückblickend.
Das erste Mal zur Wahl
So half sie ehrenamtlich zahlreichen
Familien bei Behördengängen, hörte
zu, vermittelte, übersetzte, wo sie
konnte. Ihr war wichtig, dass Menschen
am gesellschaftlichen Leben
teilnehmen konnten und sich in einem
für viele damals noch fremden Land
zurechtfanden. Später wurde aus ihrer
freiwilligen Hilfe eine ehrenamtliche
Tätigkeit: Sie kandidierte für den Ausländerbeirat,
jetzt Integrationsrat der
Stadt, und bekam als Einzelbewerberin
Stimmen für drei Sitze im Gremium.
Gleichzeitig durfte sie auch zum ersten
Mal wählen. „Ein unbeschreibliches
Gefühl! Heute kämpfe ich dafür,
dass auch Menschen mit einem gültigen
Aufenthaltsstatus in Deutschland
wählen dürfen, zumindest auf kommunaler
Ebene. Teilhabe ist für mich
Grundvoraussetzung für die Integration
und Identikation mit dem neuen Heimatland“,
sagt sie.
Jahrelang brachte Yüksel Ehrenamt,
Familie und Beruf unter einen Hut und
trat 1997 in die SPD ein. Sie ging ihren
Weg von der Mitgliedschaft im Stadtrat
über das Amt der Delegierten für den
Bundesparteitag bis zur Bundestagsabgeordneten.
In dieser Position pendelt
sie heute wochenweise zwischen
Mönchengladbach und Berlin. „Berlin
ist schön, aber Gladbach ist mein Zuhause“,
sagt sie. Deshalb ist es ihr
wichtig, im Austausch zu bleiben und
Themen, die die Gladbacher bewegen,
nach Berlin zu tragen. „In letzter Zeit
geht es in meinen Bürgersprechstunden
immer häuger um die Themen
Pege oder bezahlbarer Wohnraum.
Die jetzige Situation, insbesondere in
den Pegeheimen, ist untragbar. Wir
müssen hierfür in Berlin endlich eine
vernünftige Lösung nden“, so Yüksel.
Ein lokales Thema, das leider noch immer
in den Köpfen ist, ist die gedankliche
Grenze zwischen Rheydt und Mönchengladbach.
Die Städtefusion war
1975. „Das müssen wir doch endlich
mal abhaken können und eine Stadt
werden“, sagt sie.
Die Trennung zwischen Menschen unterschiedlicher
Herkunft – und sei es
nur Rheydt und Gladbach – ist eben
Yüksels Lebensthema. Wo Menschen
auch herkommen, wichtig ist ihr stets,
dass man sich auf Augenhöhe, mit Respekt,
ohne Vorurteile und vor allem
fair und freundschaftlich begegnet.
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